Eine Reise in die Dunkelheit zwischen den Sternen
Umbriel ist, wie einigen sicherlich bekannt, der dritte der fünf großen Uranusmonde, sein Name leitet sich von dem Lateinischen „umbru“ ab, was „Schatten“ bedeutet. Von allen Uranus-Monden besitzt er die dunkelste Oberfläche, reflektiert am wenigsten Sonnenlicht. So gesehen konnte sich Nocte Obducta kein besseres Jahr, keinen dunkleren Frühling aussuchen, um einen Silberling dieses Titels auf den Markt zu bringen.
Musikalisch verfolgt das neueste Werk Umbriel. Das Schweigen zwischen den Sternen den experimentellen Weg weiter, der Nocte Obducta schon immer auszeichnete. Geknüppel und Primitivität? Keine Spur – diesmal jedenfalls. Statt dessen erinnern die langen, sphärischen Lieder an Pink Floyd: Durch die Synthie-Sounds und vor allem durch das Theremin wird in den ziemlich langen, ruhigen Stücken das Gefühl erzeugt, man sei ein einsamer Reisender, ein Wanderer zwischen den Sternen, eingeschlossen von Kälte und Lichtlosigkeit. Oder ist das in Wirklichkeit nur die Leere, die sich einstellt, wenn man in der Monotonie trister Gedanken gefangen ist? Lyrics und Gesang, meist clear, hin und wieder unterlegt mit Screams und Growls, die einzelnen Passagen akzentuieren, sind sehr zurückgeschraubt und dominieren die Stücke gar nicht. Ein bisschen vermisse ich die lyrische Sprachgewalt, den Ausdruck, der vielleicht in den immer wieder auf sich selbst verweisenden Metaphern untergeht. Aber sei’s drum, vorherrschend ist hier, wie gesagt, der Sound. Und der hat es in sich!
„Wirklich schade, mein Herz, dass ich das alles ganz anders seh‘“
Ich muss zugeben, dass mir der Einstieg alles andere als leicht fiel. Ich hatte im Vorfeld nichts erwartet – wie soll man auch bei einer Band, die immer wieder jedes Konzept aufbricht, eine Erwartungshaltung pflegen können? „Kerkerwelten I“, der Opener, gehört, man mag es kaum glauben, zu den schnelleren Stücken des insgesamt sehr ruhigen Albums. Stromgitarren, schnelles Schlagzeug, immer wieder verfallend in ruhigere Passagen – erinnerte mich positiv an die Taverne. „Kerkerwelten“ eröffnen und schließen das Album, hier greift eine zirkuläre Struktur, die einen am Ende mit einem in sich geschlossenen Konstrukt zurücklässt, mit dem man irgendwie fertig werden muss.
Aber weiter auf unserer Reise: „Gottverreckte Finsternis“, wieder so ein Nocte-Obducta-Motiv, das immer wieder aufgegriffen und variiert wird. Enigmatische Lyrics, immer wieder werden harte Passagen eingestreut, brechen den hypnotischen Sound auf. Vor allem das Theremin schiebt sich immer präsenter in den Vordergrund, je länger das Stück dauert, hinaus geht es, hinein in die Schwärze des Alls! Spätestens mit „01-86 Umbriel“ ist man, zusammen mit der Voyager-Sonde, die im Januar 1986 ihre Reise durch unser Sonnensystem antrat und Weiten erkundete, deren Dimension wir nicht einmal im Ansatz begreifen können, in der Einsamkeit zwischen den Sternen angekommen. Das titelgebende Instrumental-Stück läuft leider Gefahr, einfach überhört zu werden, lässt man es nebenbei laufen und hört, denkt und fühlt sich nicht ein. Das Stück spielt mit Melodien, Motiven, die später, in anderen Stücken, wieder aufgegriffen werden, und unterstützt den Charakter der Scheibe als geschlossenes Konstrukt noch weiter. Erstaunlich eigentlich, wie gut diese Klammer funktioniert, bedenkt man, dass das Material zu diesem Album immer und immer wieder aufgenommen, transformiert, umgestellt, neu eingespielt, arrangiert – kurz: durchgekaut und ausgespuckt wurde …
„Von den Sternen weht die Wahrheit und verhöhnt uns kalt“
Das Titelgebende „Dinner auf Uranos“ jedenfalls ist mit seinen 13 Minuten die perfekte musikalische Untermalung des Voyager-Motivs. Ja, 13 Minuten sind lang – aber hält man einen Moment inne, lässt sich von den Synthies, den Gitarren, den Lyrics tragen, schließt die Augen und vergegenwärtigt sich, dass jetzt, genau jetzt, irgendwo da draußen Voyager I durch die Leere schwebt, auf einer Reise, deren Ende, deren Ziel nicht abzusehen, nicht vorstellbar ist, in einer Entfernung zu uns, unserem kleinen Planeten und unserem beschränkten Leben, sind 13 Minuten nicht einmal ein Wimpernschlag. Und genau diese Konzentration, diesen Blick auf Dinge erfordert Umbriel in einem sehr hohen Maße.
„Mehr Hass“ bricht, musikalisch gesehen, wieder auf, kehrt zurück zu den „Kerkerwelten“ und darüber hinaus, zur von mir nach wie vor heiß geliebten Taverne – nicht nur, was das Setting der Lyrics betrifft. Dieser Dreh reißt einen etwas heraus aus den schwarzen Weiten, mir verdeutlicht dieses Stück, ein Zwischenspiel, die Tatsache, dass alles vorherige eben wirklich mit unvorstellbaren Weiten experimentiert. Auf den Hass folgt die „Leere“, mit über 14 Minuten der längste Track des Albums. Zwischen den Synthies jaulen auch hier immer wieder Gitarrenriffs auf, die an andere, bereits früher veröffentlichte Stücke Nocte Obductas erinnern und den Wandlungs- und Reifeprozess, den sicherlich jedes Lied dieses Albums durchlaufen hat, überdeutlich zeigen. Ist man wieder zwischen den Sternen – oder „allein auf den Straßen, und über mir ungreifbare Weiten“?
„Ein Nachmittag mit Edgar“ klingt nach alten Zeiten, nicht zuletzt durch den durchaus ironischen Text. Hier erholt man sich ein wenig von der „Leere“, kommt langsam zurück – ob auf diesen Planeten ist fraglich, aber sei’s drum.
Es folgt das Reprise auf „Dinner auf Uranos“, ebenfalls ein Instrumental-Stück, das sich nicht nur stark auf „Dinner I“ bezieht, sondern in dem man auch eine Menge altbekannte Passagen aus ganz anderen Liedern aus ganz anderen Zeiten erkennen kann. Den Abschluss bildet, wie gesagt, „Kerkerwelten II“ – der Kreis schließt sich, man taucht langsam wieder auf aus dem klanglichen Kosmos, auf den man sich jetzt gut 68 Minuten lang eingelassen hat. Erstaunlich, wie gut der Zirkelschluss gelingt, das Material ist so heterogen, dass es eigentlich unmöglich scheint, alles zu einem harmonischen Ganzen zusammenzuschmieden.
Mein Fazit: Man muss wirklich in der Stimmung sein, um sich auf die Reise zu Umbriel einzulassen, auf die Leere zwischen den Sternen und in uns selbst. Mir persönlich wäre eine etwas ausgewogenere Mischung aus brutalerem, härterem Sound und den Klangexperimenten lieber gewesen – aber andererseits: Für mich ist die Taverne ja auch das Maß aller Dinge, und mit einem solchen Wunsch trage ich der Entwicklung dieser überaus interessanten Band nicht Rechnung.
Wie dem auch sei: Mit Zeit, Geduld und der richtigen Stimmung kommt man wohlbehalten auf Umbriel an – ob man die Rückreise ebenso unbeschadet übersteht, sei dahingestellt.
Anspieltipp: „Leere“
Nocte Obducta: Umbriel. Das Schweigen zwischen den Sternen.
Limitierte Digi-Pack-Edition: € 15,99; Release: 8.3.13
Tracklist:
Kerkerwelten Teil I
Gottverreckte Finsternis
01-86 Umbriel
Dinner auf Uranos
Mehr Hass
Leere
Ein Nachmittag mit Edgar
Reprise Dinner auf Uranos
Kerkerwelten Teil II
Live zu sehen sind die Jungs demnächst hier:
05.04.2013 – Ragnarök Festival, Lichtenfels (Stadthalle)
11.05.2013 – Wien (Escape Metalcorner)
23.05.2013 – Extremefest, Hünxe (Flugplatz)
(Zitate: „Wirklich schade …“ aus: „Kerkerwelten – Teil 1“; „Von den Sternen weht …“ aus: „Mehr Hass“; „Allein auf den Straßen…“ aus: „Leere“ )
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