21.7.13 – Der Amphi-Sonntag

 

img_8223Auch der Sonntag begann mit gleißendem Sonnenschein und infernalischen Temperaturen, und schon wieder musste ich bereits um die Mittagszeit aufs Gelände. An sich ist das ja kein Opfer, so ein Festival will ausgenutzt werden, und die Stimmung am Tanzbrunnen ist immer so entspannt, dass man sich dort auch gern einfach nur aufhält und Zeit überbrückt. Aber die Hitze … war nicht schön an diesem Tag. Bei Beauty of Gemina stand ich zum Glück unter den Pilzen vor der Mainstage und konnte so diesen wirklich wunderbaren Auftritt der Schweizer genießen. Auf dem Schirm hatte ich sie schon lange, live allerdings noch nicht gesehen. Die Band brachte schon um zwei Uhr nachmittags eine herrlich melancholisch, gothrockende Atmosphäre auf die Bühne, unter anderem bedingt durch die tiefe, warme Stimme des Sängers, der sehr sympathisch und kommunikativ war. Man erfuhr auch einiges über die Schweiz, was man so noch nicht wusste – zum Beispiel die extrem hohe Selbstmordrate, die in „Suicide Landscape“ thematisiert wird. Oder dass Beauty of Gemina vom Schweizer Radio nicht gespielt werden, mit der Begründung, ihre Musik sei gesundheitsgefährdend (sinngemäß wiedergegeben). Was natürlich eine besorgte Nachfrage beim Publikum zur Folge hatte, ob man sich denn wohlfühle. Natürlich!

Nach diesem herrlich melancholischen Einstieg in den Amphi-Sonntag ging es auf der Mainstage brachial-elektronisch weiter. Andy LaPlegua war mit seinem Projekt Icon of Coil im Lande und machte (nach dem München-Konzert am Abend zuvor) in Köln Station. Die Norweger haben schon einige Bandjahre auf dem Buckel, und Andy LaPlegua hatte sich intensiv um Combichrist gekümmert, doch es fanden sich viele Fans vor der Bühne ein, und gerade das Jungvolk im Cyberdress tanzte bei über 30 Grad in der prallen Sonne, als gäbe es kein Morgen mehr. Brachiale Beats (brachialer als früher? Ich hatte die Band etwas melodischer in Erinnerung) fuhren jedem in die Beine, doch ohne ausreichenden Schatten flüchtete ich schon bald ins Staatenhaus, wo das totale Kontrastprogramm wartete: Faun. Die Münchner waren stilistisch etwas unglücklich zwischen Santa Hates You und Umbra et Imago (und draußen Icon of Coil) eingequetscht, zogen aber eine große Zuschauerschar ins Staatenhaus, wo sie sich schon bald in Trance gespielt hatten. Mir wäre ein etwas songorientierterer Auftritt lieber gewesen, so merkte ich dann aus leichter Langeweile schon nach wenigen Liedern den Sauerstoffmangel im Staatenhaus und flüchtete quer übers Gelände ins (dieses Jahr zum ersten Mal – danke, danke, danke!!) klimatisierte Theater, wo ich die nächsten drei Stunden verbrachte. 

img_8281Alice Neve Fox – das Akustikprojekt von KirlianCamera-Sängerin Elena Alice Fossi – luden zu einer musikalischen und körperlichen Verschnaufpause ein. Frau Fossi im edlen, hautengen Abendkleid wurde von Kontrabass, Klavier, Cello und Akustikgitarre begleitet und lud die Zuhörer auf eine verträumte Reise in ihre „Acoustic Vision“ ein. Die Bühne weitestgehend im Dunkeln gehalten, konnte man sich voll und ganz auf Frau Fossis voluminöse Stimme und ihre Ausstrahlung konzentrieren und so ganz andere Seiten an ihr kennenlernen als bei KirlianCamera-Auftritten. Den einen oder anderen Song ihrer Hauptband streute sie ein, ebenso wie ihr SPECTRA*Paris-Cover von „Mad World“ und verzauberte die Zuhörer im vollen Theater von Lied zu Lied mehr.
Ein schöner Auftritt und eine wohltuende musikalische Pause.

img_8291Intensiv ging es danach weiter, doch auf eine ganz andere Art. Die Franzosen Rosa Crvx, die seit 1984 aktiv sind, standen auf dem Programm. Viel hatte ich schon von ihnen gehört, vor allem von ihren Bühnenauftritten, auch wenn mir ihre Musik nicht total vertraut war. Spannend war schon der Aufbau, als erst ein altes Klavier, eine mechanische Trommelmaschine wie aus da Vincis Labor und schließlich ein Gestell mit zehn gusseisernen Glocken auf die Bühne gerollt wurden. Unzählige Kerzen wurden entzündet, während die Band langsam Aufstellung nahm (ein Mann am Klavier und dem Glockengestell, das über Hebel und Seile wie eine Art Orgel bedient wurde, sowie zwei Gitarristen/Sänger). Nach ein paar technischen Problemen am Anfang konnte dann ein wahrhaft phantastischer Auftritt beginnen. Die Musik von Rosa Crvx, untermalt von mittelalterlich-makabren Videoeinspielungen, ist eine Mischung aus Liturgie, Dark-Wave, Neo Folk der Marke The Moon lay hidden beneath a Cloud und einer gehörigen Portion künstlerischem Wahnsinn, der sich vor allem in der Bühnenshow Bahn bricht. Doch zuerst einmal konnte man sich voll und ganz auf die Musik img_8342konzentrieren, deren französische und lateinische Texte, die sägenden Gitarren, die Trommeln der mechanischen Trommelmaschine (mich würde interessieren, wie diese angetrieben wird) und das Glockenspiel sich zu einer musikalischen Decke verwoben, die einen einhüllte und wärmte. Man verfolgte fasziniert und atemlos das Bühnengeschehen, vor allem gen Ende, als der sog. „Erdtanz“ aufgeführt wurde: zwei Frauen von Kopf bis Fuß in eine Art Lehmschicht gehüllt, die am Bühnenrand knieten und sich (und das Publikum in den ersten Reihen) mit Sand überwarfen.
Ein unglaublich intensives Konzerterlebnis und ganz sicher das Highlight des diesjährigen Amphi-Festivals. Danke an die Veranstalter, dass sie diese außergewöhnliche Band verpflichtet haben!

img_8392Danach hieß es schnell Essenfassen und ins Staatenhaus zu Anne Clark hetzen, ein weiterer großer Name auf dem Programm. Wer kennt nicht die ewigen Hits wie „Sleeper in Metropolis“ oder „Our darkness“, den rhythmischen Sprechgesang von Ms. Clark zu elektronischer Musik. Wer das erwartete … lag falsch. Eine vollständige Band stand auf der Bühne, mit Klavier und akustischer Gitarre, die aus sensationell guten Musikern bestand, denen Ms. Clark auch sehr viel Raum zur Entfaltung gab. Viele neuere Stücke wurden gespielt, aber natürlich auch die großen Hits – doch in einem gänzlich neuen Gewand. Unglaublich, was diese Band aus den Liedern noch herausholte, wie sie die Grundthemen variierte, den Rhythmus beibehielt, aber trotzdem etwas Neues zauberte. Mitreißend, überraschend, ein würdiger Auftritt einer Szenelegende. Anne Clark selbst schien auch große Freude an diesem Gig zu haben und blieb sogar bis zum Ende auf der Bühne. Schwer zu beschreiben, was die Magie ausgemacht hat – man muss dabei gewesen sein.

img_8455Und schon ging es weiter zur nächsten Legende – Fields of the Nephilim auf der Mainstage. Vor zwei Jahren hatte ich sie auf dem WGT in der agra gesehen und war nach vier Liedern vor dem unterirdischen Sound geflohen, auch sonst hatten sie mich live nicht so arg begeistert. Dieses Mal jedoch passte alles: Abendstimmung, Carl gut bei Stimme, guter Sound, begeistertes Publikum (inklusive Towering – Fans stehen auf dem Publikum und huldigen der Band), mitreißende Show. Ein würdiger Headliner auf der Mainstage, ein perfekter Abschluss des Abends im Freien. „Moonchild“ durfte natürlich nicht fehlen, aber auch sonst dürften keine Wünsche offen geblieben sein.

Leider war auch an diesem Abend der Beach Club schon um 22.00 Uhr geschlossen, sodass einem nur das Staatenhaus zum Weiterfeiern blieb. Dort spielte noch Peter Heppner vor sehr vielen Leuten, mir persönlich war eher noch nach einer gemütlichen Runde übers Gelände, um noch ein wenig zu shoppen und langsam Abschied zu nehmen von einem ganz, ganz wunderbaren Amphi 2013.

Generelles Festival-Fazit: Es war mein drittes Amphi und das bisher beste, vor allem wegen der musikalischen Ausrichtung. Im Vorfeld gab es viele Stimmen, die gerade die Bandauswahl bemängelten, die großen (Mainstream-)Namen vermissten, doch ich fand vor allem die Oldschool-Ausrichtung großartig. Wann hat man schon mal Boa, Anne Clark, Alien Sex Fiend und die Fields an zwei Tagen auf einem Festival? Und dazu noch große Namen wie VNV Nation, Diary of Dreams oder Suicide Commando? Von Oomph!, Umbra et Imago oder Agonoize für die geneigten Fans (ich habe einen großen Bogen um die Bands gemacht) ganz zu schweigen. Auch die Mittelalterfraktion hatte mit Faun, der Letzten Instanz und Tanzwut (sowie Dunkelschön im Theater) eine feine Bandauswahl.
Nein, musikalisch gab es überhaupt nichts zu meckern. Der Ablauf war bis auf kleinere Verspätungen auch sehr gut organisiert, alles lief freundlich und rücksichtsvoll ab.
Für den massivsten Kritikpunkt können die Veranstalter wahrscheinlich überhaupt nichts, anmerken muss man ihn aber trotzdem: die Getränkepreise. Wasser und Softdrinks in 0,5-Liter-Flaschen 4,50 € plus 50 Cent Pfand? Bei den Temperaturen? Das ist glatter Wucher. Es gab einige Trinkwasserzapfstellen auf dem Gelände, wo man sich die Flaschen wiederauffüllen konnte (oder einfach auf dem Klo, wenn man keine halbe Stunde in der prallen Sonne stehen wollte), aber auf zwei Tage Leitungswasser muss man auch erst mal Lust haben. Am zweiten Tag hat die Security eigentlich auch jeden mit Plastikflaschen aufs Gelände gelassen – ein feiner Zug! Zum Essen kann ich wenig sagen, die Pommes waren gut und verhältnismäßig günstig, ich habe aber auch andere Stimmen gehört (zu teuer, Personal schlecht usw.).

Dennoch war es ein großartiges Wochenende, das am Freitag schon mit der Rheinschifffahrt begann und hochgothisch mit den Fields am Sonntag endete. Nächstes Jahr wieder!

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