Die Suche geht weiter

Totgesagte leben länger – das bemerkt auch Bartholomew Quicksilver, dessen verschollener großer Bruder Ulysses just in dem Moment in der Tür steht, als er ihn für tot erklären lassen und das alleinige Erbe antreten will. So tritt Ulysses auf den Plan, seines Zeichens Draufgänger, Dandy und Agent ihrer königlichen Hoheit, Königin Victoria von Magna Britannia. Die ist mittlerweile dampfbetrieben und begeht bald ihr 160. Thronjubiläum. Welcher Zeitpunkt wäre also für einen Anschlag auf das britische Imperium günstiger? Ulysses findet sich bald zurück in seinem früheren Alltag und muss erkennen, dass ein kleiner Einbruch im Museum viel weitere Kreise zieht, als er für möglich gehalten hatte.

Unnatural History baut auf eine geradezu geniale Idee. Man nehme ein Steampunk-Universum, das im viktorianischen London seine Wurzeln hat, und lasse es sich einfach 100 Jahre lang entwickeln. Heraus kommt eine Welt der späten 1990er Jahre, in der Handys aus Teak und Messing bestehen, die Tube oberirdisch fährt und im Londoner Zoo Dinosaurier zu bestaunen sind. Jonathan Green bedient sich hier vieler „klassischer“ Literatur wie Jules Verne, Charles Dickens und Arthur Conan Doyle, fügt diese Welten zusammen und mischt eine gehörige Prise James Bond dazu.
Doch genau diese Mischung ist es, die Unnatural History in meinen Augen das literarische Genick bricht. Ulysses Quicksilver ist ALLES, von Abenteurer über Geheimagent, Meisterschütze, Ladykiller, bis hin zu Privatdetektiv, und manche Aspekte seines Könnens bleiben dabei einfach auf der Strecke. Oft wird er als Ermittler mit geradezu Sherlock Holmes’scher Auffassungsgabe dargestellt, doch Minuten später übersieht er offensichtliche Zusammenhänge, scheint sogar Dinge zu vergessen, die er eben noch selbst hergeleitet hat.
Viele schöne Ansätze, um dem Charakter mehr Tiefe zu verleihen, wie der Konflikt mit seinem Bruder, bleiben ungenutzt, sodass man nicht wirklich Zugang zu ihm finden kann. Ulysses wird ständig schwer verletzt, beinahe in die Luft gesprengt, ist im Grunde über das ganze Buch hinweg grün und blau geschlagen – doch ich konnte ihn nicht einmal bemitleiden. Nicht, weil er nervig oder gar unsympathisch war, sondern einfach weil der Leser kaum eine persönliche, empathische Verbindung zu ihm aufbauen kann.
Die Geschichte selbst ist irgendwie vorhersehbar, zwar nicht langweilig, aber irgendwie genau das, was man in einem Agenten-Abenteuer erwarten würde. Die üblichen Prototypen von Charakteren tun, was sie normalerweise tun, wirkliche Überraschungen gibt es nicht. Oh, doch, eine gibt es, ganz am Ende. Die allerdings ist mir irgendwie sauer aufgestoßen, und ich hatte den Eindruck, dass sie mehr oder weniger gezielt eingebaut wurde, weil‘s jetzt noch eine Überraschung brauchte. So richtig in die Geschichte eingefügt hat sie sich leider nicht.
Generell hatte ich mehrfach den Eindruck, dass Unnatural History eigentlich zwei Geschichten in einer waren, und vielleicht hätte es dem Erzählfluss gut getan, wären sie getrennt und anständig ausgearbeitet worden. Mehr charakterliche Tiefe für alle handelnden Personen, mehr Möglichkeiten für den Leser, Empathie zu entwickeln.
Unnatural History ist ein Beispiel dafür, dass eine wirklich tolle Grundidee und eine solide ausgeführte Geschichte nicht ausreichen, um ein perfektes Buch zu schreiben. Es ist unterhaltsam und witzig, gut geschrieben, mit vielen guten Ideen. Aber in den wichtigen Punkten ist es leider zu nichtssagend, um wirklich im Gedächtnis zu bleiben. Vielleicht schaffen es die zukünftigen Bände ja, diesen Eindruck zu verbessern.

Ich bin seit einigen Jahren auf der Suche nach wirklich gutem Steampunk. Die Idee einer parallelen Realität, basierend auf dem viktorianischen Zeitalter, fasziniert mich extrem und bietet viele tolle Grundlagen für Film und Literatur, doch leider scheint es, als ob diese nur sehr selten effektiv genutzt werden – so auch hier.
Meine Suche geht weiter.

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Jonathan Green – Pax Britannia: Unnatural History
Luzifer Verlag, 2013
370 Seiten
€ 13,95

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Jonathan Green

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