In der Todeszone

Im Jahr 1924 verschwinden zwei britische Bergsteiger beim Versuch, den Mount Everest zu erklimmen. Kurze Zeit später ein weiterer Brite und ein junger Österreicher. Ob die Männer es bis zum Gipfel geschafft haben (fast dreißig Jahre vor der offiziellen Erstbesteigung durch Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay!), bleibt ein Geheimnis, das Jake Perry und seine Kletterfreunde Richard Davis „der Diakon“ Deacon und Jean-Claude Clairoux ein Jahr später ergründen wollen. Der Everest scheint unbezwingbar und Versuch um Versuch, den derzeitigen Höhenrekord zu brechen, scheitert. Doch als im Basislager Sherpas grausam niedergemetzelt werden, bleibt der Gruppe nur ein möglicher Fluchtweg – nach oben…

Simmons beginnt seinen Roman – etwas ungewöhnlich, wie ich finde – mit einem Vorwort, das eine Rahmenhandlung einführt: Der Autor Dan Simmons lernt bei Recherchen den alten Bergsteiger Jake Perry kennen, der ihm schließlich seine Memoiren zur Besteigung des Mount Everest anvertraut. Diese schlichten 30 Seiten, zusammen mit der ausgezeichneten Recherchearbeit und der immensen Fülle an Details, führt zu einem ganz einzigartigen Leseerlebnis. Ständig fragt man sich: Wie viel davon ist wahr? 1924 verschwanden tatsächlich zwei Briten (Mallory und Irvine) beim Versuch, das Dach der Welt zu erklimmen. Übrigens ist auch bis heute wirklich nicht geklärt, ob sie es bis zum Gipfel geschafft haben. Die politischen Situationen in den 1920ern, nicht nur in Europa, sondern auch in Tibet, Indien und Nepal, sind ebenfalls sehr detailreich wiedergegeben. Manchmal hat man tatsächlich das beklemmende Gefühl, dass womöglich noch viel mehr der Wirklichkeit entsprechen könnte. 

Genau genommen passiert etwa 600 Seiten lang nicht besonders viel. Vorbereitungen, Training, die langwierige Reise zum Berg und schließlich der endlose Kraftakt des Aufstiegs. Ständige Rückschläge, Entkräftung, endlose technische Probleme und körperliche Anstrengungen. Für einen Thriller mag das wenig aufregend klingen, aber man kann Der Berg einfach nicht zur Seite legen. Diese Art von Spannung jagt einem keine Schauer über den Rücken, sie lebt nicht von Schockmomenten, sondern von der ständigen, nervenzerreißenden Erwartung, die Simmons gekonnt über jedes einzelne Kapitel aufrechterhält. Die andauernde, nagende Stimme im Hinterkopf, die sich noch immer fragt: Was ist mit den verschollenen Bergsteigern geschehen? Stimmen die Zeugenaussagen? Diese lauernde Bedrohung tritt zwar manchmal in den Hintergrund, ist aber nie ganz verschwunden. Genau das macht Der Berg lesenswert. 

Die körperlichen und nervlichen Strapazen einer Besteigung des Mount Everest in den 20er Jahren setzt Simmons perfekt ins Bild, passt sogar seinen Schreibstil der langsam einsetzenden geistigen Verwirrung von Jake Perry an, der unter der dünnen Luft leidet. Auch ausführliche Beschreibungen, was im menschlichen Organismus dort oben vorgeht, werden dargelegt. So kann sich der Leser in seinem wohligen Ohrensessel eine ansatzweise Vorstellung davon bilden, warum diese Gegend „Todeszone“ genannt wird.
Zum Ende hin wird Der Berg dann deutlich schneller und nimmt eine, verglichen mit der subtilen Spannung von vorher, fast offensichtliche Dramatik an. Zuerst fand ich diesen Bruch etwas plump, doch auch auf der Zielgeraden bleibt Simmons‘ Stil so packend, dass man es einfach nur zuende bringen will.


Der Berg ist ein fesselnder, intensiver Thriller, der vor allem von Schreibstil und Atmosphäre lebt. Das Wort „mitreißend“ möchte ich nicht verwenden, da „reißen“ Geschwindigkeit impliziert, doch statt dieser erlebt der Leser in angespannter Erwartung das Eintreffen der subtilen Bedrohung, mit der die Bergsteiger sich auseinandersetzen müssen. Nicht selten habe ich mich beim Lesen dabei erwischt, wie ich unbewusst die Luft angehalten habe. Trotz seiner über 700 Seiten wird er keine Minute langweilig, und am liebsten hätte ich ihn gar nicht mehr aus der Hand gelegt. 

Fazit: Lesen! 


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Dan Simmons – Der Berg 
Heyne, 2013
766 Seiten 
24,99€
ebook 19.99€
Heyne
Dan Simmons

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